Wettlauf der Gestirne und Hungerphantasien

Dieser Tag beginnt für mich mit der Hundewache, wir halten tapfer durch. Tapfer deshalb, da es trotz leichtem Wind und sehr trockener Luft immer kälter wird, da wir uns wieder außerhalb der Reichweite des Golfstromes befinden. Zum Wachwechsel bietet uns das Meer ein besonderes Naturschauspiel. Gen Osten dämmert es leicht, erste Töne roter Farbe zeichnen sich sachte am Horizont ab. Die hellen, roten Streifen am Horizont verschwimmen aber, je weiter man nach Süden abschweift. Plötzlich taucht steuerbord querab ein roter Lichtpunkt aus der Dunkelheit auf. Wir betrachten ihn natürlich genauer, da es sich ja um eine Backbordlaterne eines passierenden Schiffes handeln könnte. Der Lichtpunkt wird immer länger und röter, einer Signallaterne gleicht er auf keinen Fall mehr. Als sich wenige Augenblicke später aus dem Gefackel eine blutrote Sichel formt, steht auch schon ein stolzer 2/14 Mond etwa 2 Grad über dem Horizont und beginnt seine Wanderung über das Firmament. Hinzu gesellt sich alsbald ein Stern, der zuerst ganz zaghaft aus den Wellen auftaucht, um es dann dem Mond gleichzutun. Es scheint sich ein Wettlauf abzuspielen am morgendlichen Himmel, wer von den beiden sich bis zum Zeitpunkt des Unsichtbarwerdens in größere Höhen aufschwingen kann. Ich verfolge jedoch den Himmel nur mehr in meinen Träumen, da sich der Wachwechsel bereits vollzogen hat. Der restliche Tag vergeht mal wieder mit Segel nähen, kochen und essen.

Wir haben mittlerweile unseren Kurs von O auf NO geändert, um an Höhe zu gewinnen, bevor der angekündigte Nordwind einsetzt. Zum Mittagessen machen sich heute die Einsparungsmaßnahmen bemerkbar. Hungriger als vor dem Essen gehen wir unserem Tagwerk nach, wobei sich bei unseren Gesprächen vieles ums Essen dreht. Ich möchte nicht wissen, wie voll das Schiff jetzt mit Essen bepackt wäre, wenn sich uns eine Einkaufsmöglichkeit böte. Grits mit Nesquick retten mich vor weiteren Hungerphantasien, obwohl die Vorstellung, aus Ginger Snaps (nicht besonders schmackhafte Ingwerkekse) etwas Essbares zu zaubern, recht schön ist! Vor dem Schlafengehen werden für jeden der Crew 1½ Brotscheiben aufgeschnitten, die jeder zelebrierend und mit 2 cm Belag bedächtig verspeist. Während die einen bei Petroleumlicht noch ein paar Lieder in die Nacht trällern, gelingt es mir, die Ruderanlage zu zerstören (das Drahtseil steuerbords hat wieder beschlossen zu reißen). Schnell ist die Pinne aufgesetzt, wir sind ja schon wahre Meister darin. Die Reparatur verschieben wir auf den morgigen Tag...

Gunther

Mittagsposition: 43°11,7'N 054°27,8'W; Etmal: 65,1sm